Herbstschatten - Abschaum

Review von Zephir vom 25.10.2020 (5260 mal gelesen)
Herbstschatten  - Abschaum Eine ganze Weile musste der Black Metal-Underground auf das neue Release von HERBSTSCHATTEN warten. Das Debüt der Hamburger, norwegisch betitelt mit "Liv Og Død", erschien bereits 2013; seither gab es immer wieder ein bisschen Personalwechsel. Als 2018 die EP "Bergtempel" herauskam, deutete sich langsam an, dass die Band in Sachen musikalischer Entwicklung vom konservativen Pfad abweichen würde. Und nun? Mit dem neuen Release "Abschaum" verabschieden sich HERBSTSCHATTEN, so scheint es, vom reinen Black Metal und wagen sich vor in Gefilde von Post Black, Folk, Avantgarde und Schwarzer Romantik. Blastbeat, fieses Gekeife, Gitarrengeschredder auf verminderten Harmonien sind als deutliches Fundament geblieben, aber hinzu kommen episch eingesprochene Passagen zu leise angeschlagenen Saiten, soundtrackähnliche Geräuschkulissen, akustische und orchestrale Arrangements sowie elektronische Elemente.

Grundsätzlich bin ich ein Fan von schwarzmetallischer Weiterentwicklung, von Avantgarde und vom "Post-Irgendwas". Ich muss allerdings gestehen, dass ich mit "Abschaum" etwas zwiegespalten bin, denn an vielen Stellen hinterlässt mich das Werk mit seiner patchworkartigen Zusammenstellung ein wenig ratlos. Die Basis ist zweifellos progressiver Black Metal mit apokalyptischer Dramatik, mit rasendem Zorn und brodelnder Abscheu, was Freunden von Bands wie NOCTE OBDUCTA oder AGRYPNIE gefallen könnte. Daneben nutzen HERBSTSCHATTEN ein breites Spektrum an Form- und Stilmitteln, das die vergangene Dekade nach und nach bereitgestellt hat: Was mit 'Endzeit' beginnt wie ein avantgardistischer Schulterschluss von Genesis und Apokalypse, bei dem ich an die beiden jüngeren Alben von FJOERGYN denken muss, streut im weiteren Verlauf schwarzromantische Untertöne und Motive ein, die unweigerlich Assoziationen mit EDEN WEINT IM GRAB wecken ('Der Kutscher'). Zwischenzeitlich elektronisch verfremdet eingesprochene Vocals erinnern mich, zumal in Kombination mit reduziertem Instrumentarium und einer durchwegs desolat-melancholischen Stimmung ('Sonnenuntergang'), an frühe Werke von THRÄNENKIND (jetzt KING APATHY). Am Ende tobt sich 'Hingabe' in über zehn Minuten noch einmal so richtig zwischen Progressive und Post Black Metal aus. Diese Mixtur verfehlt keineswegs ihre Wirkung: "Abschaum" ist in seiner ganzen Black Metal-Violenz, in seinem durchdachten Experiment und seiner wilden Rohheit ein schwarzer Diamant, der mit gut verständlichen Lyrics nicht übersehen lässt, worum sich das Opus inhaltlich dreht: Es ist der Abschaum Mensch, die missratene Ausgeburt der Schöpfung - ach, die Misanthropie war schon immer des Schwarzmetalls Philosophie!

Einige Kritikpunkte habe ich aber, denn immer wieder passieren im Laufe des stilistisch ein wenig zusammengewürfelt wirkenden Albums Dinge, die mich aus dem schwarzen Flow herausreißen: Zwischenzeitliche seichte Harmoniegefüge wie zu Beginn von 'Sonnenuntergang' oder zum Ende von 'Hingabe', die Anfang der zehner Jahre von TRÄUMEN VON AURORA mehr oder weniger salonfähig gemacht wurden (dieser Punkt ist wohl streitbar), werden von der dramatischen Thematik und den schrillen Screams gut eingehegt, aber etwas raffinierter hätten HERBSTSCHATTEN dies auch hinbekommen. Mitunter wirken die sehr ernsten Lyrics unfreiwillig komisch, so etwa in der an sich gekonnt aufgesetzten Szene des Kutschers, wenn dieser ein schwieriges Gelände zu befahren hat. Auch Herz auf Schmerz zu reimen (in 'Flammen Der Schuld'), hätten sich die Black Metaller lieber verkneifen sollen. Sämtliche auf Norwegisch eingesprochenen Texte scheinen mir zudem in ihrem Sprachduktus irgendwie bemüht. Und die Orchestrierung am Ende von 'Thron Des Zorns' klingt in meinen Ohren wie ein misslungener Abklatsch von FJOERGYNs "Sade Et Masoch" - hier wäre weniger mehr gewesen, die Background-Chöre sind einfach zu kitschig. Zum Schluss missfällt mir persönlich der dominante Synthie zum Abgesang des Albums (die letzten Takte von 'Hingabe'), weil ich hier, anders als an anderen mit Synthies besetzten Stellen, nicht ausmachen kann, um welchen Instrumentalklang es sich handeln soll.

Kurzum: "Abschaum" ist ein gut konzipiertes und mit dunkler Leidenschaft umgesetztes Album, das aber aufgrund der schieren Menge an Ideen einfach Schwächen zutage bringt, die HERBSTSCHATTEN so nicht hätten offenbaren müssen. Nun ist es so: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wären HERBSTSCHATTEN auf ihrem neuen Werk gleichförmiger und konservativer geblieben, hätte die düstere, dem Untergang geweihte Welt, die sie hiermit erschaffen haben, zweifellos an Plastizität und Bildkraft verloren. Wenn das nächste Album mit geschärftem Profil erscheint, bin ich gerne noch mal dabei.

Gesamtwertung: 6.5 Punkte
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Trackliste Album-Info
01. Endzeit
02. Seelenschrei
03. Der Kutscher
04. Sonnenuntergang
05. Flammen Der Schuld
06. Gletscherbestie
07. Thron Des Zorns
08. Gabe
09. Hingabe
Band Website:
Medium: CD
Spieldauer: 51:54 Minuten
VÖ: 02.10.2020

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