|
Die sterbende Kultur der Live-Aufnahme |
Ein Artikel von Opa Steve vom 16.10.2008 (13112 mal gelesen) |
Was ist noch besser als Musik aus der Konserve? Richtig. Musik on stage. Man spürt die Spannung in der Luft, die Stimmung des aufgeheizten Publikums, lauscht den Ansagen. Die PA drückt, die Backline ist bis zum Anschlag aufgerissen, und das Adrenalin lässt die Musiker alle Songs emotionaler runterzocken. Es ist das Einmalige, was Live-Erfahrungen so wertvoll macht. Die Musik wird in der Regel nämlich nicht 1:1 wie im Studio nachgespielt, sondern bekommt durch manche Unsauberkeit, spontane Jams, Neuinterpretation einen eigenen Charakter. Außerdem ist der Sound anders und ehrlicher, weil man eben live spielt. Die Rohheit, die unbeschnittene Bassdynamik und das Übersprechen vieler Mikros machen viele Studiospuren wieder wett, so dass das Live-Material oft fetter klingt als die aufwendig erstellte Konservenvorlage.
Früher gab es mal ein ungeschriebenes Gesetz, dass jede markttaugliche Band alle 4-5 Studioalben mal eine Liveaufzeichnung nachschieben muss. Als Fan war man immer besonders heiß auf diese Exemplare. Es waren genau die oben genannten Gründe, und oftmals auch die Tatsache, dass Live-Alben die besten Songs umfassten. Quasi ein Best-Of-Album, aber immer ein ganz besonderes und individuelles. Auch gibt es erklärte Live-Bands, die auf der Bühne ungleich besser klingen als im Studio (der Autor dieser Zeilen hört sich z.B. auch heute noch keine einzige MOTÖRHEAD-Studioplatte an - aber sehr wohl die Live-Alben). Viele dieser Live-Alben haben bis heute Unsterblichkeit erreicht. THE WHO und MOTÖRHEAD haben beinahe so viele Live-Alben auf der Pfanne wie Studioscheiben. DEEP PURPLEs "Made In Japan" dürfte bis heute noch eine der verbreitetsten aller Live-Scheiben sein, denn in den 70ern gehörte sie zum Standard-Repertoire eines jeden Hardrock-Fans. Martin Birch lieferte damit seinen ersten Producer-Job ab, der eine bis dato seltene Kombination aus Transparenz, Druck und unglaublich lebendiger Räumlichkeit bietet, und wir wurden Zeugen extrem spannender Interpretationen der PURPLE-Klassiker. Und eine Dekade später zeigten RUSH mit "Exit ... Stage Left", dass man auch sauberen Prog-Rock mit durchschlagendem Erfolg als Live-Version auf den Markt werfen kann.
Doch mit dem Erfolg der Live-Alben kam gleichzeitig deren Niedergang. Irgendwann reichte es Musikern nicht mehr, das live dargebotene Material abzumischen. Man fing an, vermeintlich schlechte Spuren durch Overdubs zu ersetzen und das ganze Live-Rohmaterial zu Tode zu mastern. Einer der ganz frühen Vorläufer dieses Trends waren JUDAS PRIEST, deren erste "Live-Scheibe" "Unleashed In The East" eigentlich nur noch aus wenigen Publikum-Beimischungen bestand, während der Rest eitel im Studio nachgezimmert wurde. Auch IRON MAIDEN enttäuschten mit ihrem lang ersehnten "Live After Death", denn zu Gunsten der Transparenz (und der limitierten Spieldauer der damaligen DoLP) wurde der Bass völlig beschnitten, das Material zu Tode komprimiert und geglättet, und auch hier kommt beim Anhören immer wieder der Verdacht auf, dass da doch einiges im Studio nachträglich umgeschnitten wurde.
Kurzum: Livealben befinden sich schon seit 20 Jahren auf dem stetig absteigenden Ast. Aktuelle Bands - auch wenn sie noch so etabliert sind - scheinen an Live-Aufnahmen kaum noch zu denken. Wie sonst ist zu erklären, dass man die offiziellen KREATOR-Livescheiben an einem Finger abzählen kann? Wo bleiben die HOLY MOSES Livemitschnitte nach einem Dutzend Studio-Alben? Wir mussten 15 Jahre auf ein VOIVOD-Livealbum warten, und es war uns auch nie vergönnt, ein PARADISE LOST Livealbum aus der Prä-"Host"-Phase in den Händen zu halten. Und die wenigen Livealben, die überhaupt noch erscheinen, leiden unter der Studionachbearbeitung. Dieser getriebene Aufwand schreckt natürlich wiederum andere Bands ab, für die eine Liveaufnahme auf Studioniveau natürlich viel zu teuer wird. Dabei ist es doch gerade das, was man als Käufer nicht sucht - in Studioqualität kennt man die Songs meist sowieso. Die Scheuklappen sitzen mittlerweile so fest, dass die Bands nicht einmal mehr einen Hehl aus der Nachbearbeitung machen. Selbst bei der Chaotentruppen S.O.D. zeigen die Extras der "Live At Budokan"-DVD freimütig Scott Ian im Studio, wie er seine Gitarrenparts nochmal neu einspielt.
Es gibt nur noch einen radikalen Schritt, um Livealben wieder attraktiv zu machen. Der Markt braucht wieder mehr Bootlegs! Fast alle Konzerte werden heute in irgendeiner Form mitgeschnitten, sei es durch Mikrofonie am FOH, oder aufwendiger aus dem Pult heraus. Ich würde mir wünschen, wenn daraus mal wieder eine Bootlegger-Szene im Metal-Bereich entstehen würde, denn Bootlegs sind schon in einer guten Stereo-Aufnahme die puristischste Form eines Livemitschnitts. Natürlich wollen wir nicht dazu aufrufen, Urheberrechtsverletzungen zu begehen und eigene Konzertmitschnitte selbst zu vermarkten. Viele Bootlegs werden aber von Bands selbst erstellt, und viele Bands sind auch selbst Bootlegsammler und -tauscher. Teilweise findet man Bootlegs auf den Bandhomepages im Downloadangebot, manche erreichen den Markt sogar als "semioffizielle" Version. Dieses Segment ist weitaus spannender, als 10 Jahre auf irgendeinen Live-Mitschnitt zu warten, oder sich auf erbärmliche einzelne Bonus-Songs normaler CDs zu stürzen. Auch die Live-DVD ist kein Ersatz, solange sie an den gleichen Sound-Fantasien wie die Live-Audiomedien krankt. Wenn sich die Szene wieder auf besonders gelungene, aber dennoch puristische Bootlegs stürzt, erkennen die Bands vielleicht auch wieder den Wert einer unverfälschten Liveaufnahme, und man stellt Authentizität mit all ihren Ecken und Kanten endlich wieder über die Egobefriedigung eines fehlerfrei gespielten Solos. Es wäre schade, wenn die spannendsten Mitschnitte eines Tages nur noch zu "Best-Ofs" mit beigemischtem Publikum verkommen.
|
Besucher-Interaktion
|
Artikel über soziale Netzwerke verbreiten
|
|
|